Mein erster 24er - Grenzerfahrung im Sellraintal

2. Sellraintaler 24-Stunden-Marsch

Nicht der Wettkampf mit den anderen Teilnehmern steht bei dieser Veranstaltung im Vordergrund, sondern einfach nur das eigene Empfinden, 24 Stunden am Stück auf den Beinen zu stehen, das Erle­ben der Dunkelheit, der Müdigkeit, der Faszination Sonnenaufgang und das alles in einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten.

Wo liegen die Grenzen? Wie lange tragen Einen unsere Füße am Stück? Und nicht nur in der Ebene, sondern berg­auf, bergab über anspruchsvolle Bergwege. Diese Fragen beschäftigten mich schon seit geraumer Zeit. Ich wollte es einfach wissen! Diese Grenzerfahrung erleben! Bei meinen Recherchen nach Möglichkeiten stach mir plötzlich der „2. Sellraintaler 24-Stunden-Marsch“ ins Auge. 50 km, 3500 Höhenmeter am Stück, mit höchstem Punkt 2875m … und das Ganze auch noch ohne Schlaf. Das wäre doch eine Herausforderung? Ein Email zur Anmeldung war gleich mal geschrieben und verschickt. Doch je näher der 31. Juli 2015 mit Start um 18.00 Uhr in St. Sigmund rückte, desto mehr Gedanken schwirrten in meinem Kopf umher. Ist es zu schaffen? Was tun wenn die Waden zu krampfen anfangen, sich Blasen bemerkbar machen … oder gar die Fußsohlen zu brennen anfangen? Was wenn es nur wie aus Kübeln schüttet? Fragen über Fragen tauchen auf! Ich zweifelte sogar an der Sinnhaftigkeit einer Teilnahme an diesem Unterfangen. Doch der Ehrgeiz behielt Oberhand gegenüber dem inneren Schweinehund. Das machst du doch locker, gaukelte ich mir vor! Der Tag X rückte näher und näher. Bereits am Mittwoch reiste ich mit meiner Frau im Schlepptau nach Sellrain und bezog gut geplant im Alpengasthaus Praxmar Quartier, denn das war ja die Frühstücks-Labstelle des 24er-Marsches und da könnte ich mich wenn nötig bequem umziehen oder nur die Socken wechseln. Anstatt zu chillen und zu entspannen musste ich „Depp“ am nächsten Morgen noch eine Bergwertung auf den Zischgeles (3004m) und Oberstkogel (2728m) starten. War das denn wieder klug? Mit den ersten Sonnenstrahlen erwachte ich am Tag X. Perfekte Bedingungen für den Marsch. Tagsüber machte ich mit meiner Frau noch einen gemütlichen Ausflug auf die Drei-Seen-Hütte. Rundherum lachten die Gipfelkreuze des Neunerkogels, Pockkogels und des Gaiskogels herunter. Meine Beine fingen an zu scharren. NEIN, lass es gut sein, dachte ich mir! Und neuerlich besiegte ich den inneren Schweinehund.

Die Stunden verflogen wie im Fluge, der Nachmittag brach an und ich versuchte noch ein Stündchen zu schlafen. Doch keine Chance, meine Gedanken waren schon beim Start des 24er. Um etwa 16.30 Uhr stieg ich voll motiviert ins Auto und startete zur Startnummernausgabe zum Gemeindehaus nach St. Sigmund. Obendrauf gab es noch ein üppiges Starterpaket mit einer gravierten Trinkflasche, Powerriegel, Energietrink, Gutscheine für Essen und Getränke der Pforzheimer Hütte und Gleirschalm. Und jede Menge Obst. Angespannt beobachtete ich anschließend, wie nach und nach die „gleichgesinnten Narrischen“ eintrudelten.

Pünktlich um 18.00 Uhr, nach der Ansprache der Ehrengäste erschallten die Worte: Abmarsch - Los geht’s.

Voll motiviert, strotzend vor Energie setzte sich die Menge wie ein "laaaaaaaaaaaaaaanger Tausendfüßer“ mit weniger als tausend Füßen in Richtung Haggen in Bewegung. Vorneweg der Bergführer Thomas. Insgesamt 120 Teilnehmer, unzählige Bergretter, ein Notarzt und ein Vierbeiner. Step by Step, in moderatem Tempo ging es in vielen Serpentinen über den steilen Zirbensteig zur Sonnbergalm, wo der „Tausendfüßler“ bereits von den fleißigen Helfern mit Trink­vorrat erwartet wurde. Die ersten 2,5 Stunden waren geschafft!

Es war ca. ½ 9 Uhr abends, schon bald setzt die Dunkelheit ein und ich war gespannt, denn die bevorstehende fünfstündige Wanderung durch die Dunkelheit über den Sellrainta­ler Höhenweg nach St. Quirin stand als 2. Etappe auf dem Programm. Langsam brach die Dunkelheit über uns herein und verschluckte die Sellrainer Berge und Täler. Nur der Vollmond erleuchtete den Himmel. Urplötzlich, wie nach dem ertönen einer Sirene kramten die meis­ten in ihren Rucksäcken nach der „Hirnbirne“. Hirnbirne??? Ach ja, verständnishalber auch Stirnlampe genannt! Das Wahrnehmungsbild des „Tausendfüßler“ glich nun eher einer menschlichen Lichterkette, welche sich dampfend und keuchend, aber dennoch quietschvergnügt weiter über den schma­len Pfad des Sellrainer Höhenweges bewegte. Einer hin­ter dem anderen. Stetig bergan, begleitet von Plaudereien und Gelächter steuerte die gutgelaunte Gruppe auf den höchsten Punkt des heutigen Tages, dem Kögerle (2195m) zu. Fast genau um Mitternacht wurde es auch schlussendlich erreicht und der freie Blick über das hell erleuchtete Innsbruck sorgte für ein Erlebnis der Sonderklasse. Ab nun ging es abwärts Richtung St. Quirin. Die Stimmen der „Lichterkette“ verstummten allmählich. Jeder einzelne von uns spürte die auftretende Müdigkeit und auch der Tiefblick auf Innsbruck wich dem dunklen Wald. Nur mehr leises Gähnen und das permanente klempern der Wanderstöcke durchbrachen fortan die nächtliche Stille. Kurz vor 2.30 Uhr erreichten wir die nächste Labstelle. Warmer Tee, heiße Frankfurter und Getränke sorgten für einen Energieschub, bevor es nach Gries im Sellraintal weitergehen konnte.

Abgesehen von den Labstellen-Pausen machte jeder einzelne von uns bereits stundenlang nichts anderes als gedankenlos einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die Augenlieder wurden zunehmend schwerer und schwerer. Bei dem gleichmäßigen Trott hatte man alle Mühe sie offen zu halten. Nur die Plaudereien mit den Mitstreitern gestalteten sich als enorme Hilfestellung um die nächtlichen, schweren Minuten und Stunden bis zur nächsten Labstelle bei der Feuerwehr Gries zu überbrücken. Der Duft von frischem Kaffee lockte schon von Weiten. Dazu gab es selbstgemachte Kuchen und eine Portion Energie aus der Dose des Starterpakets. Die Nacht war lang. Sehr laaaang! Gerade jetzt in den Morgenstunden erreichte die Müdigkeit ihren absoluten Höhenpunkt. Dafür genossen nach der schlaflosen Nacht allesamt den Sonnenaufgang über den Lüsenertal umso mehr. Die anstrengende Wegsuche im Lichtkegel der „Hirnbirne“ fand im Morgengrau sein freudiges Ende. Auch die Augen entspannten sich nunmehr langsam von der nächtlichen Tortur. Im Gegensatz war die vor­her­ge­gan­gene Müdigkeit auf die Sekunde wie verblasst. Der „mentale Grenzgang“ ist bereit für Phase 2! Mit neuer Motivation im Gepäck steuerte die bereits leicht dezimierte Wandergruppe die nächste Verpflegungsstelle bei der Juifen-Kurve an.

Bald darauf rückte auf der ande­ren Talseite der Alpengasthof Praxmar ins Blickfeld. Der soll unsere nächste, nun­mehr schon fünfte, Verpflegungsstation sein. Doch bis zum Frühstückstisch standen noch einige Marathonkilometer am Programm. Pünktlich um 8.00 Uhr morgens, nach 14 Stunden erreichte der „Tausendfüßler“ den Alpengasthof und jeder einzelne konnte sich vom traumhaften Frühstückstisch nehmen was ihm schmeckte. Ob Wurst, Schinken, Käse, Marmelade, Müsli oder Obst – es war alles vorhanden. Leider war für einige hier das Ende seines persönlichen Grenzerlebnisses.

Wie ihr euch sicherlich vorstellen könnt, tut eine derartige Frühstückspause fürchterlich gut, hingegen werden die ers­ten Schritte danach meis­tens zur reinsten Qual. Die Füße sind schwer, alles läuft noch unrund. Die darauffolgenden 1200 Höhenmeter der nächsten Etappe bis zur Lampsenspitze (2895m) stellten für die übriggebliebenen Teilnehmer eine weitere großer Herausforderung dar. Noch dazu machte sich leichter Regen über das Land breit. Wahrscheinlich war es die posi­tive Gruppendynamik, die den schweißtreibenden Anstieg etwas leich­ter erschei­nen ließ. Andere wiederum wirkten bereits völlig ausgelaugt und hatten mit Blasen zu kämpfen. Auch ich horchte zu diesem Zeitpunkt ungewohnt oft auf meinen Körper. Ein leichtes Ziehen im Oberschenkel. Bekomme ich Krämpfe? Der Schuh drückt hinten etwas. Bekomme ich Blasen? Es war nur ein Hirngespinst – Mir ging es gut! Doch ich fing die Stunden zu zählen an: noch 7, noch 6 Stunden. Am Satteljoch angekommen, teilte Bergführer Thomas uns in zwei Gruppen. Die eine machte Pause, einstweilen die Bergrettungsleute – wie auch im Vorjahr – ein Seil für den abschüssigen Abstieg vom Joch fixierten. Die 2. Gruppe stieg in der Zwischenzeit zum Gipfel der Lampsenspitze (2895m) empor. Den Gipfel auslassen kam für mich keineswegs in Frage! Aber nur etwa 25% nahmen jetzt noch am „Gipfelsturm“ teil.

Wieder zurück, stieg auch die Gipfelgruppe vom Satteljoch ab. Es gestaltete sich nicht sehr schwer, jedoch sehr steil und mit viel Geröll. Das Seil diente nur zur Sicherheit, da man ja doch übermüdet war. Bereits zu Greifen nah, dennoch weit entfernt bestimmte die Pforzheimer Hütte, unser nächster Stopp bereits das gesamte Blickfeld. Wir wurden schon freudig erwartet! Ein gedeckter Tisch mit Unmengen von Spinatknödel, dazu Salat und eine ausgiebige Pause warteten als Belohnung auf uns. Der eine oder andere machte sogar kurz die Augen zu, bevor es nach einer knappen Stunde zum Endspurt ging.

Am Ende unse­res "24-Stunden-Abenteuers" gratulierte man sich bei der Siegerehrung auf der Gleirschalm gegenseitig. Jedem Einzelnen stand die Freude ins Gesicht geschrieben. Andere wiederum sagten nur: „Einmal und NIE wieder“. Das gemütliche Beisammensein mit musikalischer Unterhaltung im Zuge der Siegerehrung hielt sich ziemlich in Grenzen. Schließlich wollte jeder nur noch EINES ... in die Federn hüpfen und seine Augen schließen.

 

Hinterher betrachtet fand ich den 24er gar nicht so anstrengend! Warum man sich das Ganze antut? Ich weiß es immer noch nicht! Ein Lob gebührt jedenfalls der Bergrettung, den Sponsoren und den Organisatoren für eine perfekt, bis ins kleinste Detail geplante Veranstaltung.

 

Im nächsten Jahr bin ich sicherlich erneut dabei!

 

Lg. Wizi

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